Welches ist die Triebkraft Ihres Schaffens?
Tawada: Ich bin keine Maschine, die Brennstoff braucht, um zu arbeiten. Eher ähnele ich einer Pflanze, die in ihrer Passivität doch immer genug Licht und Wasser bekommt.
Inwiefern beeinflussen der Zufall und die Fehler das Wachstum dieses Organismus?
Tawada: Ein Zufall ist meistens kein Zufall. Entweder ist er ein Ergebnis mehrerer Entscheidungen, die man unbewusst getroffen hat, oder ist er etwas, was man unbewusst ausgewählt hat. Wir sind stets von unzähligen Phänomenen umgeben, nehmen aber nur einen winzigen Teil davon wahr. Es ist kein Zufall, wenn einem etwas auffällt. Ich gehe manchmal verträumt durch ein Einkaufszentrum. Einige Wörter aus Ladenschildern oder auf Verpackungspapier fallen mir auf, andere Wörter wiederum gar nicht. Die mir aufgefallenen Wörter bilden zusammen einen Text, der eine geheime Geschichte von mir erzählt.
Ein Fehler ist auch ein kostbarer Zufall. Ich höre den Ausdruck “Mir ist ein Fehler unterlaufen“ lieber als “ich habe einen Fehler gemacht“. Im ersten Satz ist der Fehler ein sportlicher Läufer, der sich nicht von mir fangen lässt, während der letztere Satz fast nach einer Beichte klingt.
Wenn man sich nicht an die überlieferten Regeln hält, heißt es sofort: Du hast einen Fehler gemacht. Aber die Regeln sind vergänglich oder schon zu dem Zeitpunkt, an dem die Mehrheit sie als Regeln verstanden hat, veraltet. Außerdem muss man daran denken, dass uns nicht die alte Norm, sondern die Mutation eine Überlebenschance bietet. Früher hatten fast alle Giraffen einen kurzen Hals wie wir. Es gab aber “Missgestalten“ unter ihnen, die einen langen Hals hatten, und nur diese konnten überleben, weil sie die Blätter von hohen Bäumen erreichen konnten. Bestimmte „Fehler“ waren die Bedingungen für die Kunst. Es ist bekannt, dass einige hervorragende Maler eine Sehbehinderung hatten. Meine Lieblingsfigur aus der Literatur ist übrigens Myschkin, „der Idiot“ voller Fehler. Seine Fehler haben nichts mit heldenhafter Überschreitung der Moral zu tun, sondern für ihn sind bestimmte Regeln einfach nicht da, die die anderen Menschen todernst nehmen, um reproduktionsfähig zu bleiben.
Sind Sprachen für Sie Wesenheiten, die uns Menschen einfach beherrschen und letztendlich uns vordiktieren, wer wir sind und was wir tun?
Tawada: Die Sprache schreibt uns ständig langweilige, romantische Liebesgeschichten vor, und wir sind gezwungen, diese Geschichten nachzuspielen. Nicht nur das Gefühlsleben ist von der Sprache abhängig, sondern auch die beruflichen oder die politischen Entscheidungen. Man kann ohne Sprache nicht einmal “ich“ sagen. Und kaum hat man “ich" gesagt, ist man schon kein freier Mensch mehr, sondern abhängig vom Konzept, das dieses Wort “ich“ beinhaltet. Darüber habe ich in meinem Buch Überseezungen ausführlicher geschrieben. Es ist schwer, die Gitter der Sprache zu durchbrechen. Auch das Schweigen hilft nicht viel. Die Menschen sind nicht frei, solange sie eine Sprache benutzen. Aber die Sprache schenkt uns gleichzeitig eine Chance, anders zu denken als die Sprache will. Die Sprache ist fähig, Widersprüche zu gestalten, den Sinn aufzulösen oder sich selbst in Frage zu stellen. Mit der Sprache kann man gegen die Sprache kämpfen.
In der hellenistischen Stadt Alexandria, am Ort der berühmten Bibliothek, entstand der Typus des gelehrten Dichters (poeta doctus), der oft dem aus der Inspiration schöpfenden Dichter (poeta vates) gegenübergestellt wird. Ist diese Aufteilung zeitgemäß? Glauben Sie, dass große Dichter in sich beides vereinen müssen?
Tawada: Auch in den Werken der “nicht gelehrten“ Dichter kann man eine Verbindung zu wissenschaftlichen Erkenntnissen beobachten. Der Unterschied zwischen poeta doctus und poeta vates ist relativ. Für jeden Dichter ist es wichtig, dass er einen freien Zugang zu Wissenschaften hat, aber nicht im Gefängnis eines Ordnungssystems des Wissens sitzt.
Aus der literarischen und gesellschaftlichen Tradierung schöpfend, hat der gelehrte Dichter Anspielungen in seine Werke gewoben, die dann seine Leser auffinden konnten. Damit aber seine Zeichen und Anspielungen verstanden werden, braucht ein(e) Autor(in) eine Gesellschaft, für die er/sie schreibt. Glauben Sie, dass moderne Gesellschaften sich derartig angeglichen haben, dass letztendlich der Standort unwichtig geworden ist?
Tawada: Ich habe in meinen Celan-Aufsätzen (enthalten in Talisman und Sprachpolizei und Spielpolyglotte) geschrieben, dass es in seinen Gedichten eine Struktur gibt, die man nur in der japanischen Übersetzung sofort erkennen kann, aber nicht im Original. Das war sicher nicht die Intention des Autors gewesen. Ein literarischer Text kann eine sehr komplexe Konstellation bilden, so dass er viel später mit einer neuen oder einer fremden Kultur korrespondieren kann, ohne dass der Autor davon etwas geahnt hat. Der Autor kann nach einer möglichst vielschichtigen Struktur streben, die nicht von einem konkreten Inhalt abhängig ist. Sonst wäre es langweilig, heute noch Shakespeare zu lesen
Katō Shūichi schreibt in einem Artikel über Ōe Kenzaburō: „Seine Themen stehen in Verbindung mit dem kollektiven Gedächtnis, welches den Boden seines Geburtsortes durchdringt.“ Welches ist ihre Meinung dazu Frau Tawada? Welchen Einfluss üben das kollektive und das individuelle Gedächtnis auf das Werk eines Autors aus?
Tawada: Die Aussage von Katō könnte missverstanden werden, besonders, wenn sie aus dem Kontext herausgenommen wird. Denn die Metapher des Bodens und die des Geburtsortes und auch das Verb “durchdringen“ im Zitat machen den Eindruck, als wäre ein Mensch durch Gewalt des Schicksals an seine Herkunft genetisch gebunden. Ōes Leistung besteht aber darin, dass er aus dem kollektiven Leben des Dorfes ausgetreten ist und im Kontext der Weltliteratur einen distanzierten Blick auf die eigene Dorfgemeinde geworfen hat und dafür eine neue Sprache erfunden hat.
Ich bin im Moment sehr vorsichtig mit dem Begriff “kollektives Gedächtnis“. Er wird von manchen als eine Bestätigung für ihre Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft missbraucht. Dabei besitzt schon eine einzige Dorfgemeinde eine Mehrzahl von unterschiedlichen Gedächtnissen, geschweige eine Nation. Umgekehrt kann einer, der später ins Dorf eingezogen ist, eine viel klarere Einsicht in die Erinnerung der alten Dorfbewohner haben als deren Enkelkinder. Was den Umgang mit der Geschichte betrifft, bin ich nicht nur gegen ein familienorientiertes Denken, sondern auch gegen den Gebrauch der Metaphern wie “Kinder“ oder “Töchter/Söhne“ für diejenigen, die das Gedächtnis weiter mit sich tragen.
Wenn ich schreibe, gehe ich nicht davon aus, dass es so etwas wie ein Gedächtnis gibt, das bereits irgendwo unter der Erde wie die Knochen der Mammuts liegt. Vielmehr interessiere ich mich dafür, wie die einzelnen Menschen und Menschengruppen aus der grenzenlosen Gegenwart heraus verschiedene Erinnerungen produzieren.
In Ihrem frühen Erzähl- und Gedichtband Wo Europa anfängt schreiben Sie von den Warnungen Ihrer Großmutter, fremdes Wasser zu trinken. Besteht die Gefahr, wenn man vom fremden Wasser getrunken hat und die fremden Früchte genossen hat, dass man seine Heimat und den Grund der Landung in die Fremde vergisst?
Tawada: Meine Großmutter hat mich vor der konkreten Gefahr des Wassers gewarnt, weil das fremde Wasser auf den Körper negativ wirken kann. Sie hat aber nie gesagt, dass die Kultur oder die Mentalität (falls es so etwas überhaupt gibt) im Ausland anders, geschweige gefährlich, sein sollen. Das fand ich klasse.
Verstehe ich Sie richtig, dass Sie den Heimatverlust nicht als etwas Negatives begreifen?
Tawada: Ich habe mich jahrelang darüber gewundert, warum die Menschen in Deutschland vom negativen “Heimatverlust“ sprechen. Einige von ihnen haben sogar Mitleid mit mir. Aber ich wusste nicht, warum ich etwas verloren haben soll, nur weil ich jetzt hier lebe und nicht dort. Ich habe hier nicht nur eine neue Sprache gewonnen, sondern auch die japanische Sprache wieder neu entdeckt..
Seit kurzem weiß ich, dass viele Deutsche deshalb mit mir Mitleid haben, weil sie selber als Kind ihre osteuropäischen Geburtsorte verlassen mussten und an den Orten in Deutschland, wo sie dann angekommen waren, sehr gelitten haben. Wenn sie den Satz “jemand hat seine Heimat verlassen“ hören, können sie sich darunter nichts Positives vorstellen. Es war lange nicht angesagt, über diese Vertreibung zu sprechen. Umso stärker projizierten sie das Problem auf die Migranten. Einige waren deshalb besonders einfühlsam, die anderen waren aus demselben Grund ablehnend.
Die japanische Literatur wurde im Westen lange wegen ihrer stilistischen und thematischen Andersartigkeit geschätzt. Die Werke Yasunari Kawabatas oder Jun’ichirō Tanizakis und ihre relativ frühe Verbreitung und Beliebtheit im Westen zeugen davon. Sind die Menschen vom „Andersartigen“ fasziniert?
Tawada: Das Gefühl, dass eine Literatur etwas Andersartiges oder Seltsames ausstrahlt, faszinierte mich schon immer. Und ich bin sicher nicht die einzige Leserin, die diese Faszination kennt. Man soll den Grund dafür nicht in der Herkunft des Autors suchen. Von mir aus kann man zwar das Wort „japanisch“ als Metapher benutzen, wenn es einem weiter hilft, aber das sollte einen nicht daran hindern, genauer hinzuschauen, worin die Andersartigkeit einer Literatur besteht.
Ist die japanische Literatur vom Image des „Exotischen“ befreit? Welchen Stellenwert besitzt sie gegenwärtig in Deutschland?
Tawada: Die japanische Literatur hatte es nie nötig, sich vom Image des Exotischen zu befreien. Denn für die meisten Autoren in Japan war es egal, ob ihre Bücher im Ausland gelesen werden oder nicht. Das ist wahrscheinlich umgekehrt auch der Fall. Es gab wenige Ausnahmen wie zum Beispiel Jun’ichirō Tanizaki, der ironisch und klug mit dem Japan-Bild im Ausland spielte, oder Yukio Mishima, der tragisch dumm damit umging.
Manche ausländischen Verlage nutzten früher die Erwartung auf das Exotische, die ihre Leser der japanischen Literatur gegenüber hatten, und wählten entsprechende Bücher zum Übersetzen aus, fertigten Buchumschläge mit exotischen Bildern und machten entsprechende Werbung. Die Zeiten sind vorbei. Die deutschen Leser haben sich vom Begriff des Exotischen befreit, besonders die Generation, die mit Manga, Anime und Gameboy aufgewachsen ist.
Hat sich aber der Inhalt der japanischen Literatur verändert? Manche behaupten, dass Haruki Murakami ein nicht-mehr-exotischer japanischer Autor sei. Es liegt unter anderem daran, dass er sich stark an der amerikanischen Literatur orientiert (wozu er genauso viel Recht hat wie jeder deutsche oder englische Autor) und seine Werke wurden zum Teil aus dem Amerikanischen in anderen Sprachen übersetzt, damit sie keine Spuren der japanischen Sprache behielten. Eigentlich müsste das Amerikanische (falls es so etwas gibt) für die Deutschen auch exotisch sein, aber es gibt in Deutschland einen starken Wunsch, das Amerikanische als einen Bestandteil der eigenen Identität zu verstehen (dafür gibt es das beliebte Wort “westlich“) und nicht als exotisch.
Was können wir durch die Beschäftigung mit der Literatur eines anderen Landes lernen?
Tawada: Diese Frage unterscheidet sich im Prinzip nicht von der Frage, was man durch die Beschäftigung mit der Literatur des eigenen Landes lernen kann. Man kann vieles von der Literatur lernen. Aber wenn es um die Literatur eines anderen Landes geht, gibt es manchmal einen zusätzlichen Gewinn.
Es gibt zum Beispiel in der übersetzten Literatur immer wieder Stellen, die der ästhetischen Norm des eigenen Landes widersprechen, oder Stellen, wo man sich fragt, warum sie überhaupt dort stehen. Diese Stellen bieten mir eine Chance zu begreifen, wie anders als gewohnt Logik, Sprache, Emotionsfluss oder deren Beschreibung funktionieren können. Sie geben mir auch den Mut zu glauben, dass die Sprache der Menschen ganz anders sein oder werden kann, als sie heute ist.
Wirkt bei Ihnen die Faszination des “exotischen“ Europa fort oder ist sie mit den Jahren abgeklungen?
Tawada: Ich denke nicht, dass ich Europa jemals als exotisch empfunden habe, aber ich habe versucht, Europa stets mit neuen Augen zu betrachten genau wie ich andere Teile der Erde -auch Japan- betrachte. Als ich in Europa ankam, fand ich vieles vertraut, weil ich es von Tokyo schon kannte oder weil ich schon darüber gelesen hatte. Man kann zuerst nur das wahrnehmen, was man schon vorher gekannt hat. Aber im Laufe der Zeit kann man alles immer fremder empfinden. Dann kann man nie aufhören, überrascht zu sein oder vor einem Rätsel zu stehen. Allerdings geschieht das nur demjenigen, der sich große Mühe gibt.
Und zum Schluss möchte ich noch unbedingt eine Frage beantworten, die mir nicht gestellt wurde. Ich verrate die Frage nicht, aber hier ist die Antwort:
Zu meinem Erstaunen gibt es Germanisten, die in ihren wissenschaftlichen Arbeiten die Äußerungen der Autorin, die aus dem Internet zu lesen sind, zitieren. Wie kann ein Wissenschaftler etwas vom Internet zitieren? Ich habe schon so oft Texte, Zitate und schriftliche Interviews im Internet gefunden, die mit meinem Namen versehen waren, aber von denen ich keine Ahnung hatte. Ich will nicht sagen, dass alles, was auf Papier gedruckt ist, autorisiert ist. Aber bei Büchern kann man viel besser die dafür verantwortliche Person ausfindig machen oder feststellen, woher ein Satz stammt. Im Internet ist es mir nicht einmal gelungen, die Fälschungen, die ich zufällig fand, zu löschen.
Was dieses Interview betrifft, möchte ich IHNEN versichern, dass ICH die Fragen eigenhändig beantwortet habe. Aber auch bei dieser Aussage kann niemand sicher sein, dass ich sie geschrieben habe. Ich hoffe, dass diese Unsicherheit SIE auf die Literatur noch neugieriger macht als zuvor.
■ Das Interview führte Kyro Ponte im Dezember 2007
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