Vassilis Vassilikos - Kyro Ponte

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Interviews
Seitdem die Griechen vom Zwölfgötter-Kult zum Monotheismus übertraten, haben sie alle Nachteile des zweiten vererbt und alle Vorteile des ersten entbehren müssen. Lassen wir deshalb das Ganze sein. Wir schreiten voran, indem wir als Einzelpersonen großartiges vollbringen und als Staatsbürger freveln

Interview mit Vassilis Vassilikos


In Westeuropa sind Sie bekannt geworden als der Autor von „Z“. Was hat Ihnen veranlasst, diesen Roman zu schreiben? Wo befanden Sie sich, als Sie das Buch geschrieben haben?

Vassilikos: Was mich bewogen hat den Roman „Z“ zu schreiben, waren die sozio-politischen Gegebenheiten in meiner Heimat Mitte den 60er. Vor allem hat sich der Mord von Grigoris Lamprakis wenige Meter entfernt von meinem damaligen Elternhaus an der Ecke der Straßen Aristotelus und Ermu ereignet. Damals lebte ich in Athen und ich konnte nicht glauben, dass die Kleinverkäufer, die verstrickt in der Ermordung des unabhängigen Parlamentariers der Linken gleichzeitig Staatsfeinde waren. Aber sie waren tatsächlich „Staatsfeinde“ oder ihr Überleben hing von der Polizei ab, da diese die Lizenz zur Eröffnung eines Ladens erteilte.

Auf welche Weise begann die Zusammenarbeit mit Kostas Gavras? Hatten Sie ihn vor dem Film „Z“ gekannt?

Vassilikos:  Die Zusammenarbeit mit Kostas Gavras begann in Rom nach dem Militärputsch am 21. April 1967 als er mich besuchte, um mich gebeten hat, ihm die Rechte für das gleichnamige Buch zu geben. Er war mir zum Glück bekannt aus dem Film Die Apartments der Mörder (franz. Compartiment Tueurs), das ich 1965 in Athen gesehen hatte und mir sehr gefiel. Ich kannte aber aus meiner Militärzeit seinen Bruder Apostolos Gavras und der war derjenige, der ihm das Buch auf Griechisch zum lesen gegeben hatte, als Kostas damals einige Tage vor dem Militärputsch in Griechenland gekommen war. Er las das Buch im Flugzeug auf dem Rückweg nach Paris und als einigen Tagen danach (am 21. April) das Militär im Land seiner Eltern die Macht ergriff, beschloss er sich, den Stoff dieses Buches für seinen nächsten Kinofilm zu benutzen.  

Oft begegnet man in einigen der Hauptfiguren von ihrem Frühwerk, dass diese mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Was ist für Sie Armut?

Vassilikos: Armut ist das notwendige Bewegmotiv zum Erfolg. Die Gesättigten haben seit ihrer Kindheit her, keine andere Sorge als nur die der „Verdauung“ oder auf welche Weise sie in Fitnessstudios ein Paar Pfunde loswerden. Bedenken Sie aber eins, alle „Lamogia, Λαμόγια [1]“, so wie wir in Griechenland diese Kaste von Menschen nennen, das heißt, alle skrupellose Leuteschinder, all die haben selber als Kinder mit dem Hunger zu kämpfen gehabt.

Armut ist aber nicht mit Hunger gleichzusetzen. Deshalb können Nichthungernden, die arm in ihrer Kindheit waren, aufrichtige Männer und Frauen werden. Die Hungernden dagegen erreichen dies nur sehr selten, jedoch nicht die Durstenden. Wasser ist wohl was anderes als Brot.  

Ist der Reichtum in Griechenland gerecht verteilt? Glauben Sie, dass der Staat alle Ihrer Bürger dieselben Chancen gibt? Sind Sie nicht der Auffassung, dass Griechenland auch heute noch von einer politischen und ökonomischen Oligarchie regiert wird?

Vassilikos: In keinem Land der Welt ist der Reichtum gerecht verteilt. Vielleicht gab es so etwas in den skandinavischen Ländern in den 60er. Heutzutage gibt der griechische Staat eine Chance nur den Mächtigen und Skrupellosen. Genauer gesagt, wird Griechenland nicht von einer Oligarchie, sondern von einer Oligarchie der Oligarchie regiert. Und das ist wirklich besorgniserregend.

Sagen Sie mir Herr Vassilikos, wo befindet sich Griechenland kulturell ungefähr anderthalb Jahrhundert nach der Gründung des griechischen Staates. Wo gehören wir letztendlich, im Westen oder im Osten, sind wir Abkömmlinge der Byzantiner oder der Altgriechen?

Vassilikos: Sicherlich sind wir nicht das zweite, d.h. wir haben nichts mit den Altgriechen gemeinsam. Weil die Altgriechen an der „Anmut der Gefälligkeit“ (gr. „κάλλος το αγαθόν“) glaubten, was im Neugriechischen zur „Vernunftslosigkeit“ (neugr. „αγαθιάρης“) wurde, d.h. zur Nachlässigkeit und Unbedachtheit. Ferner lebten die Altgriechen mit der Besinnung Bürger eines Staatsgefüges zu sein, obwohl ja bei Ihnen eine Reihe von Bürgern zweiter Klasse (Sklaven, Heloten, Periöken und Metoiken) gab. Eines der Voraussetzungen für das Aufblühen der altgriechischen Kultur der klassischen Periode war sicherlich die Existenz dieser Bürger zweiter Klasse. Das heißt, für mich muss der angebliche Wert der Demokratie, der Wert des Staates, d.h. der Stadtgemeinde, fest auf der Basis dessen ruhen, welche Bürger eine Stadtgemeinte ausmachen. Als Apostel Paulus nach Phillipi ankam, in der benachbarten Stadt meines Geburtsortes Kavala, der alten Neapoli, ließ aus dem Begriff „Versammlung der Stadtgemeinde“ (gr. „εκκλησία του δήμου“) den zweiten Teil weg und es blieb nur der Begriff „Versammlung“, woraus später ja das Wort Kirche (neugr. „εκκλησία“) entstand. Seitdem wissen wir nicht, wo uns der Kopf steht.

…und inwiefern sind die Griechen Byzantiner?

Vassilikos: Hauptsächlich ist unser musikalisches Empfinden byzantinisch. Der orthodoxe Gottesdienst ist eine höchst poetische und dramaturgische Handlung. Aber sonst sind wir Griechen ein buntes Volk, das nach der eigenen Identität sucht, eine Suche, die jedoch nirgendwohin führt. Denn, damit man ein Zentrum findet, muss dieses vorher bestehen. Ein derartiges Zentrum, wie die Tora bei den Juden gibt es bei uns nicht. Der Zwölfgötter-Kult bedeutete absolute Freiheit, aber unter der Vorbedingung, dass es eine göttliche Gerechtigkeit gibt, wodurch der Hochmut und die Ungerechtigkeit bestraft wurden. Seitdem die Griechen vom Zwölfgötter-Kult zum Monotheismus übertraten, haben sie alle Nachteile des zweiten vererbt und alle Vorteile des ersten entbehren müssen. Lassen wir deshalb das Ganze sein. Wir schreiten voran, indem wir als Einzelpersonen großartiges vollbringen und als Staatsbürger freveln.

Was glauben Sie, dass die Griechen versäumt haben, als sie an einer der wichtigsten kultur-historischen Momente der europäischen Geschichte, der Renaissance  nicht teilhatten.

Vassilikos: Wir haben einiges verfehlt. Doch wir haben auch was davon, unsere Misere.

Haben die Griechen Ihre unfruchtbare und nachahmende Beziehung zu ihrer eigenen Tradition überwunden?

Vassilikos: Zum Glück nicht ganz. Weil gleichgültig wie unfruchtbar und nachahmend die Beziehung zu eigener Tradition ist, ist diese viel besser als die unfruchtbare und nachahmende Beziehung, die wir gegenwärtig gegenüber fremden Lebensmodellen pflegen. In manchen Orten Griechenlands behaare einige noch auf Ihre Eigenheiten und dies ist kein Wiederbelebungsversuch vergangener Bräuche, sondern etwas, was in ihrem tiefsten Sein, in ihren Genen liegt. Die Tatsache, dass das Tsipuro oder Tsikudia oder Raki oder Ouzo dem angelsächsischen Whisky überlebte, sagt einiges aus, wie auch der bekannte Spruch [der Olympiasiegerin Vula Patulidu] „Für Griechenland verdammt noch Mal!“.

War es ein Fehler, dass Sie kein Rechtsanwalt geworden sind, sowie Ihre Eltern es gewünscht haben?

Vassilikos: Nein, ganz und gar nicht. Als Rechtsanwalt hätte ich im Gericht getreten, für eine Rechtsordnung, die das individuelle Leid nicht kennt.  Als Schriftsteller schreibe ich aber über leidenden Wesen und Geschriebenes bleibt.

Was bewegt einen Menschen zu schreiben? Glauben Sie vielleicht, dass in ihren Werken ihre Stimme vernehmbar sein wird und dass jedes Mal ein anderes Teil ihres Selbst im Kopf ihrer Leser zum Vorschein kommen wird?

Vassilikos: Eine Person, die schreibt, möchte einen Mangel kompensieren. Jetzt, welcher dieser Mangel ist, variiert glaube ich vom Fall zu Fall. Jedes der ungefähr hundertzwanzig Bücher, die ich bis jetzt geschrieben habe, ruft dem Leser, je nach Temperament, eine andere Regung hervor.  Einige finden Gefallen an die Bücher meiner früheren Phase, den symbolischen Werken, andere hingegen die Werke der politisch engagierten Ära. Andere wiederum finden Werken der Spätphase besser. Ich habe soviele Lesarten, wie die Themen, die mich bisweilen beschäftigt haben.

Letztendlich, dass was ich versucht habe und ich glaube, dass ich es geschafft habe, ist eine Wandmalerei nach der Art à la maniére de der großen mexikanischen Maler der Periode 1950-2000 zu machen. Unabhängig davon, ob diese Werke gut oder schlecht sind. Die Zeit wird es zeigen. Sie bezwingt alles und beurteilt alles.

Was hat Ihnen dazu bewogen, sich mit dem Medium Fernsehen zu beschäftigen?

Vassilikos: Die Entwicklung des Fernsehens gemeinsam mit der Erfindung der Fotografie und des Kinos brachten die Literatur näher an der modernen Technologie.  Als junger Schriftsteller der 50er Jahre wurde mir der neue Erzähl- oder Schreibduktus: durch Bilder die Wirklichkeit zu beschreiben bewusst und ich wollte auch mit dem Fernsehen experimentieren. Ich war innerlich gespalten, ich habe mit den zwei Varianten meiner selbst gekämpft. Letzen Endes war mir das Schreiben lieber, weil es erschwinglicher war und auch viel persönlicher. Doch ich diente auch dem griechischen Fernsehen als Stellvertretender Intendant des staatlichen Fernsehens und war in den Jahren 1981-1984 verantwortlich für das Programm. Seit 1994 moderiere ich wöchentlich die Literatursendung „ Aksion Esti“, in der ich jungen und bereits etablierten Autoren in einer fünfundfünfzig minütigen Fernsehsendung vorstelle.
Vor einigen Jahren empörten sich einige Ikonen der griechischen Volksmusik gegen Ihr Buch «Iparcho»[2]“ (dt. ich bin da, ich existiere). Hatten Sie wirklich vor, eine Legende zu entmythologisieren? Wussten Sie aus ihrer langjährigen Erfahrung nicht, dass Griechen ihre Märchenfiguren so sehr lieben?

Vassilikos: Ich habe mit meinem Roman nicht die Entmythologisierung von meinem Freund Stellios angestrebt. Im Gegensatz, ich wollte nur einige Sachen klarstellen und gegen Falschnachrichten, die in der Welt gesetzt wurden, etwas unternehmen.

Wenn Sie noch ein zweites Leben hätten, würden Sie dieselbe Fehler begehen?

Vassilikos: Ohne die päpstliche Unfehlbarkeit für mich beanspruchen zu wollen, habe ich zu jedem Zeitpunkt meines Lebens das getan, woran ich glaubte, dass es richtig war. Je ne regrette rien, wie Edith Pief besingt. Ich bereue nichts in meinem Leben und bleibe weiterhin ein Linker, obwohl die Bedeutung des Linksseins in unseren Tagen neu überdacht werden muss.

Herr Vassilikos, vielen Dank, dass Sie sich für dieses Interview Zeit genommen haben.
Vassilikos: Ich danke auch.
■ Das Interview führte Kyro Ponte im April 2007

[1] Λαμόγιο bedeutet auf Griechisch ich betrüge jemanden und mache mich dann aus dem Staub. Lamogia sind also die Betrüger und Gauner.
[2] Yparcho ist eines der bekanntesten Titel des Volkssängers Stelios Kazantzidis.

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