Sie beleuchten in mehreren Bänden die deutsche Geschichte aus unterschiedlichen und überraschenden Blickwinkeln und tun dies mit der Gewitztheit und Feinsinnigkeit, die Ihre Schriften immer auszeichnen. Was hat Sie dazu bewogen, sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen?
Rosendorfer: Ich habe mich seit meiner Schulzeit für Geschichte interessiert. Ich wollte mir im Züge der Arbeit an den Büchern Klarheit verschaffen.
Im Vorwort zur Deutschen Geschichte Bd.1 schreiben Sie, dass die Weltgeschichte „auf dem Weg der Menschheit meistenteils Blut, Tränen und Eiter hinterlassen hat“. Sind wir, Herr Rosendorfer, nicht auch Erben von großartigen geistigen und künstlerischen Errungenschaften? Sind uns nicht auch Spuren von Freude, von Lebenslust, Spuren beispielloser Liebe überliefert worden? Sind wir nicht einseitig, wenn wir „Blutspuren“ eine derart große Bedeutung beimessen?
Rosendorfer: Freilich hat uns die Vergangenheit geistige und künstlerische Werte hinterlassen. Die politische Hinterlassenschaft aber ist die Blutspur. Ob das eine das andere aufwiegt, kann ich nicht entscheiden.
Worin unterscheidet sich Geschichte von Literatur?
Rosendorfer: Sehr einfach. In der Literatur erfinde ich. In der Geschichtsschreibung nicht.
Kann Literatur eine Lupe sein, die geschichtliche Feinheiten erst sichtbar macht, indem sie dem handelnden Subjekt eine größere Aufmerksamkeit widmet als dem sog. „geschichtlichen Kontext“?
Rosendorfer: Die typische Juristenantwort: das kommt darauf an. Manchmal ist das handelnde Subjekt, manchmal ist der „geschichtliche Kontext“ interessanter.
Sind die heutigen Menschen gebildeter als Menschen früherer Epochen?
Rosendorfer: Ich vermute: nein. Aber das ist vielleicht zu oberflächlich hingesagt. Es ist vermutlich sehr kompliziert, schon weil es viele, unterschiedliche „frühere Epochen“ gab. Auch ist die Frage offen: was ist gebildet? Ein wilder Germane im Jahr 1 n.Chr. war im klassischen Sinne weniger gebildet als ein römischer Senator. Ob der Sklave des Senators gebildeter war als der bärtige Germane, ist schwer zu sagen. Der Germane war aber dafür wohl „gebildeter“ gewesen sein (wenn man Erfahrung dazu rechnet), was Jagd, Natur, Überlebenskunst anbetrifft.
Bildung allein aus literarischen, philosophischen usw. Kenntnissen erklären zu wollen, geht wohl nicht an. Es gehört dazu, sicher, aber ob ein bloßer Vielleser gebildeter ist? Bildung ist vielleicht, ich bin vorsichtig, so eine Art geistiges Gerüst, das um den Gebildeten herum aufgebaut ist, und das ihn in den Stand setzt, das Gerüst hier oder dort aufzufüllen. Alles wissen kann man nicht, und bloßes lexikalisches Wissen allein ist noch keine Bildung. Anderseits ist eine verstreute Zettelbildung nicht das richtige. Die Kenntnis der eigenen Sprache und fremder Sprachen gehört, meine ich, zur Bildung. Das alles gilt, soweit ich sehe, sowohl heute als auch für frühere Epochen. Aber es ist alles sehr kompliziert. Ob dies etwa auch für das alte China gilt, oder für die aztekische Kultur? Man müsste die Frage präzisieren.
Setzt Bildung nicht immer eine bedingungslose Liebe zu einem Wissens- oder Kunstgebiet voraus, eine Hingabe, die in der heutigen Zeit sehr dürftig vergütet und gewürdigt wird?
Rosendorfer: Ich meine: umgekehrt. Bedingungslose Liebe zu einem Wissens- oder Kunstgebiet setzt Bildung voraus, denn ohne Bildung weiß man ja nicht, was man lieben soll. Auch dürftig vergütet ist diese Liebe wohl immer geworden; heute ist das, meine ich, eher günstig, wenn man an die vielen Förderungen denkt. Eher ist der Poet 1808 als 2008 verhungert.
In der Wirtschaft, aber auch zunehmend in Bildung und Wissenschaft wird eine Effizienzsteigerung durch bessere Nutzung der vorhandenen Ressourcen angestrebt. Was heißt Effizienzsteigerung in Bildung und Wissenschaft? Ist die Anwendung eines mechanistischen Prinzips für die Bildung von Menschen nicht fatal? Müssen wir uns nicht diesbezüglich mit der Frage auseinandersetzen, was die angestrebten Ziele unserer Gesellschaften wohl sind und in welcher Richtung wir diese entwickeln wollen?
Rosendorfer: Es reichte, meine ich, wenn die Bildungseffizienz (welch blödes Wort) des 19. Jahrhunderts wieder erreicht würde. Welche Ziele für unsere Gesellschaft anzustreben sind, weiß niemand. Vermutlich gibt es kein solches Ziel. Nietzsche in seinem manchmal wirren, aber manchmal ganz hellen Fragmenten (1887/1888) hat – nicht wörtlich, sinngemäß – geschrieben: gäbe es ein solches Ziel, wäre es schon erreicht. Anders: das naheliegendste Ziel ist: zu überleben. Und das werden wir vermutlich nicht erreichen.
Finden Sie es nicht tragisch, dass zusehends mehr und mehr junge Menschen in unserer Gesellschaft gezwungen sind, ihre Liebe zu einem künstlerischen oder wissenschaftlichen Bereich aufzugeben, weil derartige Beschäftigungen in einer profitorientierten Gesellschaft als Zeitverschwendung deklariert werden?
Rosendorfer: Nein, jedenfalls, was die künstlerische Beschäftigung angeht. Erstens soll jeder, bevor er zu dichten anfängt, einen ordentlichen Beruf lernen und ausüben (Goethe war Jurist, Schiller war Arzt), und zweitens: was die andere Künste anbetrifft, gibt es, meine ich, inzwischen genug Bilder und Musikstücke. Der Vorrat reicht. Bei der Wissenschaft sehe ich da keine Jammerbedarf: die nimmt doch zu?
Teilen Sie die Ansicht, dass gegenwärtig ein generelles Desinteresse für soziale Fragen und soziale Verantwortung vorherrscht und dass ein Rückzug ins Private zu beobachten ist? Weshalb muss überhaupt gehandelt werden, wenn trotz aller Mängel das System moderner Industriegesellschaft noch tragfähig ist?
Rosendorfer: Ja, das kommt mir auch so vor, ich halte es aber für eine Reaktion auf die alles überschäumende, letzten Endes langweilig gewordene Politisierung aller Lebensbereich nach 1968.
Kornilios Kastoriadis formulierte bereits in den 50-er Jahren, dass die Erfolgsgeschichte der Industriegesellschaften nicht auf systemimmanenter Kreativität beruhe, sondern auf Ausbeutung der bereits vorhandenen geistigen und natürlichen Energieressourcen. Viele natürliche Energieressourcen werden in ein paar Jahrzehnten abhanden kommen und auch die in früheren Epochen geschaffenen normativen Wertsetzungen werden nicht für immer gültig sein. Wohin führt uns diese Entwicklung?
Rosendorfer: Wenn ich diese Frage beantworten könnte, wäre ich ein Hellseher und würde „hell gesehen“ habend anschließend wahnsinnig vor Schreck.
Man könnte sich Zukunftsszenarien ausmahlen. In ihrem Roman „Briefe in die chinesische Vergangenheit" tun Sie das meisterlich, indem Sie den armen Kao-tai in die Zukunft und zwar im fremden Deutschland setzen. Wie sind Sie eigentlich auf diese Idee gekommen?
Rosendorfer: Montesquieu hat ca. 1725 seine berühmten „Persischen Briefe“ geschrieben. Es war keine großartige Idee, das, was Montesquieu fürs 18. Jahrhundert getan hat, fürs 20. zu versuchen. Ich wundere mich nur, dass nicht früher schon einer draufgekommen ist.
In einigen Tagen beginnen die olympischen Spiele in Pekin. Was würde der gebildete Mandarin Kao-tai über sein eigenes Land denken? Würde er darüber stolz sein oder würde er mittlerweile wie eine „Langnase“ über Menschenrechte sprechen und nur noch über die Zwangsmodernisierung grübeln?
Rosendorfer: Kao-tai würde sich darüber wundern, wie stark sich die Chinesen den Langnasen angeglichen haben, wie stark sie sich bemühen, wie Langnasen zu sein und zu leben. Im Übrigen wäre Kao-tai der Meinung, daß man die chinesische Regierung durch einen gezielten, vollständigen und entschiedenen Olympia-Boykott in der Frage Tibet in die Knie hätte zwingen können.
Herr Rosendorfer, vielen Dank für dieses interessante Gespräch.
■ Das Interview führte Kyro Ponte im März 2008